"Inwieweit wir bestimmte situative Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz als „auffällig“, als „herausfordernd“ oder aber "verkennend“ erleben, ist letztlich immer auch eine Frage unseres eigenen Wahrnehmens und Erlebens und damit unserer eigenen Haltung. Ein von uns in der Interaktion nicht verstandenes Verhalten werden wir dabei vielleicht als „sinnlos“ betrachten, ein als störend empfundenes als "Verhaltensstörung“, eines, das wir als aggressiv wahrnehmen, als „fremdaggressiv“. Das Verkennen der eigenen Subjektivität in der Interaktion und persönlichen Wahrnehmung kann auf diese Weise zur Verkennung des Verhaltens des Anderen führen. Eine defizitorientierte Perspektive in der Arbeit mit Menschen mit Demenz wird sich innerhalb ihrer Einschätzung und Bewertung von Verhaltensäußerungen von Menschen mit Demenz auf die jeweilige Übereinstimmung oder Abweichung von gewissen Verhaltensnormen und von eigenen als normal und als „adäquat“ angesehenen Reaktionen und Verhaltensweisen fokussieren. Sie wird uns vielleicht dazu führen, im Zusammenhang mit „problematischen“ Verhaltensweisen Lösungen von Problemen nicht zunächst einmal dort zu suchen, wo diese aufgetreten und entstanden sind, in der Interaktion und Begegnung selbst,sondern etwa durch medikamentöse Interventionen. Die Bereitschaft dazu, Menschen mit Demenz durch die Gabe von Sedativa mit dem Ziel der „Verhaltensmodulation“ in ihren Handlungsweisen und Aktivitäten zu steuern und zu dämpfen, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit eine größere sein,wenn wir ihre situativen Verhaltensäußerungen als Ausdruck persönlicher Verhaltensmerkmale und in diesemZug als verhaltenstypisch betrachten. Gehen wir aber davon aus, dass bestimmte Verhaltensweisen immer etwas bedeuten und aus ihrem jeweiligen situativen Kontext heraus zu begreifen sind, auch dann, wenn sich deren Sinn in der konkreten Situation für uns womöglich nicht immer sogleich erschließt,wird sich gleichzeitig auch unsere Wahrnehmung des Verhaltens und der darin enthaltenen Mitteilungen von Menschen mit Demenz verändern."
Textzitat aus: Kraus, Sebastian: Begegnungsorientiertes Arbeiten mit Menschen mit Demenz. In: Geriatrie up2date 2019; 1(01): 71-85 und: CNE, Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York